Sundsvall-Stellungnahme
Stellungnahme der 3. Internationalen Konferenz für gesundheitsförderliche Lebenswelten, Sundsvall, 1991
Die Sundsvall-Konferenz für gesundheitsförderliche Lebenswelten gehört zu einer Folge von Veranstaltungen, die mit der Verpflichtung der WHO auf die Ziele der Gesundheit für Alle (1977) begann und mit der Erklärung von AIma-Ata zur primären Gesundheitsversorgung (1978) und der ersten internationalen Konferenz für Gesundheitsförderung in Industrieländern in Ottawa (1986) fortgesetzt wurde. In den Konferenzen über gesundheitsfördernde Gesamtpolitik in Adelaide (1988) und dem Aufruf zum Handeln: Gesundheitsförderung in Entwicklungsländern, Genf (1989), wurden Inhalt und Bedeutung von Gesundheitsförderung weiterentwickelt. Parallel zu diesen Entwicklungen im Gesundheitsbereich wuchs die öffentliche Besorgnis über Umweltgefahren. Dies brachte die Welt-Kommission für Umwelt und Entwicklung in ihrem Bericht "Unsere gemeinsame Zukunft" sehr deutlich zum Ausdruck, worin neue Vorstellungen zur Notwendigkeit einer dauerhaften Entwicklung entwickelt wurden.
Gesundheitsförderliche Lebenswelten
Die Sundsvall-Konferenz für Gesundheitsförderung, die erste weltumspannende Konferenz für Gesundheitsförderung mit Teilnehmern aus 81 Ländern, ruft weltweit dazu auf, sich aktiv für die Schaffung gesundheits-förderlicher Lebenswelten einzusetzen. Die gegenwärtigen Gesundheits- und Umweltprobleme miteinander verbindend, wies die Konferenz darauf, dass Millionen von Menschen in extremer Armut und Not in einer zunehmend geschädigten Umwelt leben, die ihre Gesundheit bedroht und das Ziel "Gesundheit für alle bis zum 2000" extrem schwer erreichbar macht. Der Weg nach vorn liegt in der gesundheitsfördernden statt gesundheits-schädigenden Gestaltung der verschiedenen Lebenswelten - der natürlichen Umwelt, der sozialen Lebenswelt sowie der ökonomischen und politischen Systeme. Die Konferenz zeigte zahlreiche Beispiele und Möglichkeiten zur Herstellung gesundheitsförderlicher Lebenswelten auf, die von Politikerinnen, Entscheidungsträgerinnen und Aktivistinnen in den Gesundheits- und Umweltbereichen genutzt werden können. Nach Auffassung der Sundsvall-Konferenz kommt jeder Person eine Rolle bei der Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten zu.
Aufruf zum Handeln<
Dieser Aufruf zum Handeln richtet sich an Politikerinnen und Entscheidungsträgerinnen in allen relevanten Sektoren und auf allen Ebenen. Alle, die sich für Gesundheit, Umwelt und soziale Gerechtigkeit einsetzen, sind aufgefordert, ein breites Bündnis für das gemeinsame Ziel der "Gesundheit für alle" einzugehen. Wir, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dieser Konferenz, verpflichten uns, diese Botschaft mit zurück in unsere Gemeinden, Länder und Regierungen zu nehmen und initiativ zu werden. Wir rufen auch die UN-Behörden dazu auf, ihre Zusammenarbeit zu verstärken und die gemeinsame Herausforderung anzunehmen, die im Streben nach einer dauerhaften ökologischen Entwicklung und wirklicher Chancengleichheit liegt. Eine unterstützende Umwelt ist von herausragender Bedeutung für die Gesundheit. Umweltschutz und Gesundheitsförderung sind voneinander abhängig und gehören untrennbar zusammen. Wir rufen dazu auf, dem Erreichen beider Ziele beim Aufstellen von Entwicklungsprioritäten zentrale Bedeutung einzuräumen und im Umgang mit Interessenskonflikten im alltäglichen Regierungsgeschäft Vorrang zu geben. Die gesundheitlichen Unterschiede innerhalb unserer Gesellschaften und zwischen den Ländern des Nordens und Südens nehmen dramatisch zu. Dies ist unannehmbar. Aktives Handeln zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit im Bereich der Gesundheit ist dringend erforderlich. Millionen von Menschen leben in extremer Armut und Not in einer sich verschlechternden Umweltsituation, sowohl in städtischen als auch ländlichen Gebieten. Eine erschreckend hohe Anzahl von Menschen leidet an den tragischen gesundheitlichen Auswirkungen bewaffneter Konflikte. Schnelles Bevölkerungswachstum ist eine der Hauptbedrohungen für eine dauerhafte ökologische Entwicklung. Millionen von Menschen müssen ohne sauberes Wasser und ohne ausreichend Nahrung, Obdach und sanitäre Versorgung auskommen. Armut blockiert die Träume und das Streben, eine bessere Zukunft zu schaffen, und eingeschränkter Zugang zu politischen Strukturen untergräbt die Grundlagen der Selbstbestimmung. Bildung ist für viele entweder nicht verfügbar oder ungenügend oder schafft es in ihrer jetzigen Form nicht, Menschen zu befähigen, in ihrem Selbstwertgefühl zu unterstützen und zu stärken. Millionen von Kindern mangelt es an grundlegender Bildung, sie habe wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Frauen, die Mehrzahl der Weltbevölkerung, sind immer noch unterdrückt. Sie werden sexuell ausgebeutet und leiden unter Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und auf vielen anderen Gebieten, was sie daran hindert, die ihnen zustehende Rolle bei der Schaffung gesundheits-förderlicher Lebenswelten zu spielen. Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit haben einen ungenügenden Zugang zur elementarsten Gesundheitsversorgung. Die Systeme der gesundheitlichen Versorgung müssen zweifellos gestärkt werden. Die Lösung dieser massiven Probleme liegt im gemeinsamen Handeln für Gesundheit und in den Ressourcen und der Kreativität der Menschen, ihrer Zusammenschlüsse und Gemeinwesen. Dieses Potential zu erschließen, erfordert einen fundamentalen Wandel unserer Ansichten über Gesundheit und Lebenswelt sowie ein klares und überzeugendes politischen Bekenntnis zu dauerhaften gesundheits- und umweltverträglichen Politiken. Diese Lösungen liegen jenseits des traditionellen Gesundheitssystems. Die Initiative und Umsetzung muss aus allen Bereichen kommen, die zu gesundheitsförderlichen Lebenswelten beitragen können. Sie muss lokal von Menschen in ihren Zusammenschlüssen und Nachbarschaften, national durch staatliche und nicht-staatliche Organisationen sowie weltweit durch internationale Organisationen verwirklicht werden. Aktionen werden vorrangig solche Bereiche wie das Erziehungs- und Verkehrswesen, den Wohnungsbau und die Stadtentwicklung sowie den industriellen Produktionssektor und die Landwirtschaft betreffen.
Handlungsfelder für Gesundheitsförderliche Lebenswelten
Der Ausdruck der Gesundheitsförderlichkeit von Lebenswelten bezieht sich sowohl auf die physischen wie auch die sozialen Aspekte unserer Lebenswelt. Er umfasst die alltäglichen Lebensumstände der Menschen, ihre Gemeinde, ihre Wohnverhältnisse, ihren Arbeitsplatz und ihre Freizeitstätten. Förderliche Lebenswelten beinhalten die Rahmenbedingungen, die den Zugang zu Ressourcen des Lebens und zu Möglichkeiten der Stärkung persönlicher Kompetenzen bestimmen. Daher hat die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten viele Dimensionen: physische, soziale, spirituelle, ökonomische und politische. Jedes dieser Handlungsfelder ist in lebendiger Wechselwirkung unauflösbar mit den anderen verbunden. Koordinierte Initiativen auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene sind erforderlich, um wirklich dauerhafte Lösungen zu erreichen.
Die Konferenz hob vier Aspekte gesundheitsförderlicher Lebenswelten besonders hervor: Die soziale Dimension umfasst die Einflüsse von Normen, Gewohnheiten und sozialen Prozessen auf Gesundheit. In vielen Gesellschaften verändern sich traditionelle soziale Beziehungen auf eine Weise, die die Gesundheit bedroht, zum Beispiel durch vermehrte soziale Isolation, durch Auflösung sinnvoller Lebenszusammenhänge und Lebensziele oder durch Bedrohung der traditionellen Werte und des kulturellen Erbes.
Die politische Dimension verlangt von Regierungen, die demokratische Partizipation an Entscheidungsprozessen und eine Dezentralisierung von Verantwortlichkeit und Ressourcen zu garantieren. Sie verlangt ein Bekenntnis zu Menschenrechten, Frieden und - in Übereinstimmung mit Konzepten globaler Sicherheit - eine Verlagerung von Ressourcen aus dem Wettrüsten. Die ökonomische Dimension verlangt eine Neuverteilung von Ressourcen zum Zweck von "Gesundheit für alle" und für eine dauerhafte Entwicklung sowie den besseren weltweiten Transfer ungefährlicher Technologien. Die Anerkennung und Nutzung von Fähigkeiten und Wissen der Frauen in allen Sektoren einschließlich Politik und Wirtschaft, würde zur Entwicklung einer besseren Infrastruktur für förderliche Lebenswelten führen. Die große Arbeitsbelastung der Frauen muss anerkannt und zwischen Frauen und Männern neu aufgeteilt werden. Gemeindenah arbeitende Frauen-Organisationen müssen in der Entwicklung von Strategien und Strukturen der Gesundheitsförderung einen stärkeren Einfluss haben.
Handlungsvorschläge
Die Sundsvall-Konferenz für gesundheitsförderliche Lebenswelten ist übereingekommen, dass Vorschläge zur Umsetzung der Strategie "Gesundheit für alle" zwei grundlegende Prinzipien verfolgen müssen: Die Chancengleichheit muss eine grundsätzliche Priorität erhalten bei der Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten; Energien und kreative Kräfte werden freigesetzt durch Einbindung aller Menschen in dieses einzigartige Vorhaben. Alle Entwicklungsprogramme müssen neuen Formen der Rechenschaftspflicht unterworfen werden, damit eine gerechte Verteilung von Verantwortung und Ressourcen erreicht wird. Jede Handlung und Ressourcenverwendung muss eine klare Priorität und Verpflichtung gegenüber den Ärmsten enthalten, um die besonderen Belastungen der Randgruppen, der Minderheiten und der Menschen mit Behinderungen zu erleichtern. Die industrialisierte Welt muss die menschliche und umweltbezogene Schuld begleichen, die durch Ausbeutung der Entwicklungsländer angehäuft wurde. Öffentliches Handeln für gesundheitsförderliche Lebenswelten muss die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen bedenken und alle Ressourcen der Natur mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der kommenden Generationen verwalten. Die Ureinwohner haben in vielen Ländern zu ihrer Umwelt eine einzigartige spirituelle und kulturelle Beziehung, die für die übrige Welt sehr lehrreich sein kann. Daher ist es unbedingt erforderlich, dass Bevölkerungsgruppen der Ureinwohner an allen Aktivitäten einer dauerhaften Entwicklung beteiligt sind und ihre Rechte auf Land und kulturelles Erbe mit ihnen ausgehandelt werden.
Ein realistisches Ziel: Soziales Handeln stärken
Dieser Aufruf zur Schaffung förderlicher Lebenswelten ist ein praktischer Vorschlag zur Umsetzung von lokalen Gesundheitsaktivitäten Der Schwerpunkt liegt dabei auf solchen Aktivitäten, die eine breite gemeinschaftliche Beteiligung und Kontrolle erlauben. Beispiele aus aller Welt wurden auf der Konferenz im Hinblick auf Erziehung, Ernährung, Wohnen, soziale Dienste, Arbeit und Verkehr vorgestellt. Diese zeigten, dass förderliche Lebenswelten die Menschen in die Lage versetzen, ihre Fähigkeiten zu verbessern und Selbstvertrauen zu entwickeln. Weitere Einzelheiten können dem Konferenzbericht und dem Handbuch entnommen werden. Aus den auf der Konferenz dargestellten Beispielen ergaben sich vier Schlüsselstrategien zur Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten auf lokaler Ebene:
- Interessenvertretung für Gesundheit durch gemeinschaftliches lokales Handeln stärken, insbesondere durch von Frauen organisierte Gruppen.
- Gruppen und einzelne Menschen durch Bildungsmaßnahmen und Stärkung ihrer Kompetenzen befähigen, Kontrolle über ihre Gesundheit und Umwelt ausüben zu können.
- Bündnisse für Gesundheit und gesundheitsförderliche Lebenswelten schließen, um das Zusammenwirken gesundheits- und umweltorientierter Kampagnen und Strategien zu verbessern.
- Vermittlung zwischen gegensätzlichen Interessen in der Gesellschaft zur Sicherung der gerechten Teilhabe an gesundheitsförderlichen Lebenswelten.
Zusammenfassend wurde deutlich, dass die Stärkung der Menschen und ihrer Partizipation auf Gemeindeebene Kernelemente eines demokratischen Ansatzes öffentlicher Gesundheitsförderung und die treibende Kraft für Selbstvertrauen und Entwicklung sind. Die Teilnehmer der Konferenz anerkannten insbesondere, dass Bildung ein Grundrecht des Menschen ist und eine Grundvoraussetzung, um die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen herbeizuführen, die zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit erforderlich sind. Sie sollte das ganze Leben hindurch verfügbar sein und das Prinzip der Gleichheit, vor allem in bezug auf Kultur, soziale Schicht und Geschlecht, vertreten.
Die globale Perspektive
Die Menschheit bildet einen integralen Bestandteil des Ökosystems der Welt. Die Gesundheit der Menschen ist grundlegend mit der gesamten Umwelt verbunden. Unser ganzes Wissen deutet darauf hin, dass es nicht möglich sein wird, die Lebensqualität für Menschen und alles Leben zu erhalten, wenn nicht auf allen Ebenen drastische Änderungen in Einstellung und Verhalten erfolgen, was den Umgang mit der Umwelt und ihrer Erhaltung angeht. Eine "konzertierte Aktion" für eine dauerhafte, gesundheitsförderliche Lebenswelt ist die Herausforderung unserer Zeit. Auf der internationalen Ebene gibt es große Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen, die nicht nur zu Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung führen, sondern auch in der Fähigkeit von Gesellschaften, annehmbare Lebensbedingungen für künftige Generationen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Die Abwanderung aus ländlichen Gebieten in städtische Ballungsräume erhöht drastisch die Zahl der Menschen, die in Slums leben, mit den entsprechenden Problemen, wie u. a. Mangel an sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen. Politische Entscheidungen und industrielle Entwicklung beruhen zu oft auf kurzfristigen Planungen und wirtschaftlichen Gewinnen, die die wahren Kosten für unsere Gesundheit und Lebenswelt nicht berücksichtigen. Die internationale Verschuldung zehrt an den knappen Ressourcen der armen Länder. Die Militärausgaben steigen, und der Krieg bringt heute neben Tod und Behinderung auch neue Formen von ökologischem Vandalismus mit sich. Ausbeutung der Arbeitskraft, Export gefährlichen Abfalls und toxischer Substanzen, Lagerung giftigen Abfalls, besonders in den schwächeren und ärmeren Ländern, und verschwenderischer Verbrauch der Ressourcen der Welt zeigen, dass die jetzige Form der Entwicklung sich in der Krise befindet. Zu einer neuen Ethik und weltweiten Gesetzgebung auf den Grundsätzen friedlichen Zusammenlebens zu kommen, ist ein dringendes Gebot, damit eine gerechtere Verteilung und Nutzung der begrenzten Ressourcen der Welt möglich wird.
Globale Verantwortlichkeit erreichen
Die Sundsvall-Konferenz ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, neue Mechanismen der gesundheitlichen und ökologischen Verantwortlichkeit zu etablieren, aufbauend auf dem Grundsatz einer dauerhaften gesundheitsgerechten Entwicklung. In der Praxis erfordert dies Gesundheits- und Umweltverträglichkeitsprüfungen für alle größeren politischen Entscheidungen und Programme. WHO und UNEP werden aufgefordert, ihre Anstrengungen zu verstärken und einen Verhaltenskodex im Hinblick auf Handel und Marketing von gesundheits- und umweltschädlichen Stoffen zu entwickeln. WHO und UNEP werden aufgerufen, für Mitgliedsstaaten Richtlinien zu entwickeln, die auf dem Grundsatz der dauerhaften Entwicklung basieren. Alle multilateralen und bilateralen Geldgebern, wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds werden aufgefordert, derartige Richtlinien bei der Planung, Entwicklung und Bewertung von Entwicklungsprojekten zu verwenden. Schnelles Handeln ist erforderlich, um Entwicklungsländern zu helfen, eigene Lösungen zu entwickeln. Enge Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen sollte dabei stets gewährleistet sein. Die Sundsvall-Konferenz hat aufgezeigt, dass die Fragen von Gesundheit, Umwelt und menschlicher Entwicklung nicht getrennt werden können. Entwicklung muss Verbesserung der Lebensqualität und Gesundheit bei dauerhafter Erhaltung der Umwelt beinhalten. Die Konferenzteilnehmer fordern daher die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 dazu auf, die Konferenzerklärung mit einzubeziehen in ihre Überlegungen zur Entwicklung der EARTH-CHARTA und der Agenda 21. Bei beiden müssen Gesundheitsziele im Vordergrund stehen. Nur weltweites Handeln auf der Grundlage globaler Partnerschaft wird die Zukunft unseres Planeten sicherstellen.
Quelle: WHO Webseite